Die Party ist vorbei, das Fest beginnt
Wie ich auf dem Kollapscamp lernte, dass das Ende ein Anfang ist, und dabei endlich meine Leute fand
Ich saß in einem Zelt mit dreißig mir unbekannten Menschen und heulte. Zwei Stunden lang. Um die anderen nicht zu stören, versuchte ich, einigermaßen leise zu weinen. Aber ich schämte mich nicht. Und ich versteckte mich nicht. Wir sangen eine einfache Melodie zu einem Text des Mystikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert:
"Lasst die Schönheit,
die wir lieben,
das sein, was wir tun.
Es gibt Hunderte Arten
die Erde zu küssen."
Wir schauten uns in die Augen, während jemand über Verluste sprach. Wir gingen nacheinander in die Mitte, hoben einen Stein auf, sagten, worüber wir trauerten und legten den Stein in ein Wasserbecken. Was genau gesagt wurde, erinnere ich nicht. Dafür war ich zu traurig.
Niemand war gestorben. Ich war in einem Trauerworkshop auf dem Kollapscamp. Im Programm stand: "Die ökologische Krise, wie viele andere Krisen unserer Zeit, wirkt tief in unser Inneres, auf unsere Seele. Doch es gibt kaum Orte, an denen wir unseren Schmerz um die Welt teilen können."
Am Ende war ich voller Dankbarkeit, dass ich für einmal nicht alleine war mit meiner Trauer über die gerodeten Wälder und aussterbenden Tierarten, die hungernden Kinder in Gaza, den verlorenen Zukunftsoptimismus und das Gefühl, dass ich nicht genug gegen das Grauen mache.
Dann musste ich los, Gemüse schnippeln. Ich hatte mich für den Küchendienst eingetragen. Auf dem Kollapscamp war ich nicht nur als Teilnehmerin von Workshops. Ich war auch Teil einer selbstorganisierten Infrastruktur. Wenn tausend Menschen eine gute Mahlzeit wollen, müssen zwanzig ein paar Stunden lang Gemüse waschen und putzen.
In meinem vorigen Newsletter habe ich euch erzählt, wie ich die Hoffnung aufgegeben habe, dass wir die Klimakatastrophe aufhalten können. Und dass das dramatische Konsequenzen haben wird. Doch selbst wenn wir das alles wissen, ist es verdammt schwer, es wirklich zu begreifen, zu akzeptieren und entsprechend zu handeln. Zwischen uns und der Erkenntnis hocken die Gewohnheit und die Angst.
(Anmerkung des Redakteurs (Peter): Also wie immer. Falls wir tatsächlich nicht die Kurve kriegen, was ich nicht glaube, aber wer weiß, hier eine Anmerkung für außerirdische Historiker, die später versuchen, den Untergang der Menschheit zu rekonstruieren: Wir sind an Gewohnheit und Angst gescheitert. Unser Motto war: Lieber sterben, als etwas anders machen. Nein, ich verstehe es auch nicht.)
Hier in Mitteleuropa hat unser Gesellschaftssystem lange Zeit für Stabilität und wachsenden materiellen Wohlstand gesorgt. Doch es basiert auf Ausbeutung von Menschen andernorts und der Zerstörung ökologischer Grundlagen. Und es ist nicht nachhaltig. Versuche, das System so umzubauen, dass es nicht mehr seine eigenen Grundlagen zerstört, haben immer wieder zu deutlichen Verbesserungen geführt (die Entwicklung effizienter und günstiger Solaranlagen etwa oder die Stilllegung einiger Kohlekraftwerke), sind aber im Großen und Ganzen gescheitert.
So stehen wir am Anfang eines Zerfallsprozesses. Manche nennen diesen Prozess Kollaps. Sie meinen damit keinen Doomsday, nach dem die wenigen Überlebenden auf der Suche nach etwas Essbarem einsam durch Trümmerhaufen streifen. Es geht vielmehr um den Zusammenbruch von Infrastrukturen, die wir heute noch für selbstverständlich erachten. Der hat schon begonnen.
Die alltäglichen Dinge, die bereits nicht mehr funktionieren, sind erste Anzeichen: die ewig verspätete Bahn, sich häufende Naturkatastrophen, Lieferengpässe bei Medikamenten, steigende Lebensmittelpreise, schamlos lügende Politiker, der rasante Aufstieg antidemokratischer Parteien.
(A.d.R.: Unsere Gesellschaft ist auch ökonomisch nicht nachhaltig, wofür die Bahn ein fantastisches Beispiel ist: Der Zerfall, den wir mit ihr seit einigen Jahren erfahren, ist Ergebnis aggressiven Raubbaus – es wurde lange viel mehr rausgeholt, als investiert wurde. In gewisser Weise ist sie ein technisches Ökosystem, das wir erst gebaut, dann gründlich ausgebeutet und damit schließlich ruiniert haben.)
Niemand kann vorhersehen, wie sich dieser Prozess entwickeln wird. Klar ist nur, dass er je nach Standpunkt sehr unterschiedlich aussehen wird.
- Vielleicht gehörst du zu den Menschen, für die Hitze lebensbedrohlich ist, und wenn im Zug mal wieder die Klimaanlage ausfällt, kollabierst du.
- Vielleicht verlierst du deine Arbeit, und weil das überlastete Bürgeramt deinen Antrag leider erst ein Jahr später bearbeiten kann, verlierst du auch deine Wohnung.
- Vielleicht sitzt du in einem Bunker und ernährst dich von einem unendlichen Vorrat an Kaviar-Konserven, bis du irgendwann nicht mehr kannst.
- Vielleicht lebst du neben einer Lithiummine, und als sie bankrott geht, kannst du das erste Mal in deinem Fluss baden.
- Vielleicht bricht in deinem Viertel ein Bandenkrieg aus und dein bester Freund wird von einer Kugel getroffen.
- Vielleicht gibt es keinen Pflegeplatz für deine Schwiegermutter und du teilst jetzt die Wohnung mit ihr.
- Vielleicht wird dein Haus von einer Flut weggespült.
- Vielleicht verliebst du dich beim Sandsäcketragen.
- Vielleicht wird deine Schwester ein Nazi.
- Vielleicht rettet das dein Leben.
Für den Rest dieses Textes tun wir das, was wir auch auf dem Camp getan haben: Wir stellen den Kollaps nicht in Frage. Wir akzeptieren, dass er unsere Realität ist. Wir wissen, dass uns schon jetzt die Selbstverständlichkeiten unter den Füßen wegbröckeln und in Zukunft immer mehr bröckeln werden. Wir wissen, dass es nicht einfach wird. Aber wir resignieren nicht. Und wir nehmen unsere Emotionen ernst. Wir denken so frei wie möglich. Wir bereiten uns vor.
Wir fragen uns: Wie geht ein gutes Leben für alle im Kollaps?
Vielleicht magst du kurz eine Pause machen, um deinen Emotionen die Möglichkeit zu geben, deinen Gedanken zu folgen. Atme tief ein, halte die Luft ein paar Sekunden in deiner Lunge, und dann atme alles aus. Vielleicht noch einmal? Du könntest auch kurz die Augen schließen.
Nun zu meinen aktuellen Top 5 Strategien und Gedanken zum Kollaps, also unserer Gegenwart und Zukunft.
Aufbau
Akzeptanz heißt nicht Resignation. In meinem Fall sogar das Gegenteil. Diese Welt wird untergehen und ich will eine neue bauen!
(A.d.R.: Ja! Das will ich auch!)
Ich habe mich in letzter Zeit gefragt, warum ich mich nicht aktiver in die Klimabewegung eingebracht habe. Dafür gibt es vordergründig viele Erklärungen, vom Neutralitätsgebot für Journalistinnen über meine latente Sozialphobie bis zu mangelnder Zeit. Aber der Kern ist, dass es immer darum ging, etwas zu verhindern: Kohleabbau, Waldrodung, LNG-Terminals. Oder Forderungen an ein System zu stellen, das diese Forderungen offensichtlich nicht erfüllen kann.
Es ging um Protest. Und Protest ist einfach nicht mein Ding. Ich möchte lieber selber etwas bauen, als andere an etwas zu hindern. Ich agiere lieber, als dass ich reagiere. (Ich habe trotzdem gigantischen Respekt vor den Menschen, die kluge Proteste organisieren und es manchmal schaffen, einen üblen Kopf der Hydra abzuschlagen.)
(A.d.R.: Ich will wirklich nichts gegen kluge Proteste sagen, aber in der Mythologie wird ein abgeschlagener Kopf der Hydra durch zwei neue ersetzt, und wenn ich mir so ansehe, wie die vergangenen Jahre gelaufen sind, scheint mir das ein recht treffendes Bild für die politische Entwicklung zu sein. Von Scholz zu Merz und Söder… Ja, danke, jetzt ist mir schlecht.)
Es gibt viel aufzubauen:
Strukturen: Ich denke zum Beispiel an solidarische Landwirtschaft. Oder dezentrale Stromproduktion. Oder Repaircafés.
Communities: Die queere, neurodiverse und behinderte Autorin Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha beschreibt in ihrem Buch "The Future is Disabled" ("Die Zukunft ist behindert") eindrücklich, wie behinderte Menschen in den USA während der Pandemie vom Staat im Stich gelassen wurden und die gegenseitige Hilfe in der Community mit Wissen, Pflege, Geld und Gütern viele Leben gerettet hat. Ein Vorbild.
Beziehungen: Bei wem kannst du wohnen, wenn dir dein Zuhause keines mehr ist? Wem kannst du bei der Pflege kranker Angehöriger unter die Arme greifen? Wer könnte ein bisschen Geld gerade richtig gut brauchen, wenn du selbst genug hast? Wer fängt dich auf, wenn du fällst?
Wissen: Welche nützlichen Fähigkeiten könntest du lernen? Und welche weiter geben? Ich trage zum Beispiel seit einiger Zeit die Idee mit mir herum, zu lernen, in Krisensituationen psychische erste Hilfe zu leisten.
Träume: Neue Welten müssen imaginiert werden, bevor sie Realität werden können. Auf dem Camp habe ich die Politologin Isabella Hermann getroffen, die Anti-Dystopien sammelt und untersucht. Texte über Zukünfte, in denen es trotz allen Übeln der Welt Platz für Leben und Schönheit gibt wie "Das Ministerium für die Zukunft". Solche Geschichten müssen geschrieben, gelesen, verbreitet und diskutiert werden.
(A.d.R.: Mir gefällt an all dem vor allem, dass die Aufgabenstellungen so konkret sind. Weltretten klingt gut, bringt auch viele Likes, aber ist mir eindeutig zu groß. Dagegen mit anderen Menschen etwas schaffen, was allen nützt? Ist irgendwie normal. Und gesund.)
Das ist alles nicht neu. Und die vielen Menschen, die diese Wege schon gehen, freuen sich über Mitstreiterinnen, Nachahmer und Weitermacherinnen.
Kollektiver Egoismus
Um Klimaaktivistin zu werden, brauchte es immer viel Altruismus und ein abstraktes Verständnis von Solidarität.
Klar, wir haben für eine bessere Zukunft gekämpft, die auch unsere Zukunft war. Aber wir waren immer auch eine Minderheit, die bereit war, jetzt und hier ihre Kraft und ihre Lebenszeit zu opfern, um Menschen in der Zukunft zu retten. Das ist per se nicht schlecht, führt aber bei manchen Leuten zu Skepsis ("Haben die keine eigenen Probleme?") und spricht nur selten Menschen an, die im Alltag schon viele Kämpfe auszufechten haben.
Vom Aufbau alternativer Strukturen hingegen profitieren wir selbst unmittelbar. Wir machen es für die Gemeinschaft – aber auch für uns selbst! Ich habe das Gefühl, dass damit viele Leute weit über das linke oder ökologische Lager hinaus erreichbar sind. Insbesondere solche, die schon lange nicht mehr an "Politik" glauben, aus welchen Gründen auch immer.
Es scheint paradox, aber ausgerechnet eine Form des Egoismus – kollektiv an sich selbst zu denken – könnte unsere Isolation auflösen und mehr Gemeinschaft schaffen.
Gefühle und Politik
Apropos Widersprüche: Bist du Hippie oder Revoluzzer?
Lange glaubte ich, das sei eine Entscheidung. Und war gespalten. Ich hatte Lust auf die Hippies: Ich wollte an mir selbst arbeiten, meinen Gefühlen Raum geben, Drogen nehmen, mich in einen Kreis Gleichgesinnter begeben und im Kleinen eine eigene Utopie leben.
Gleichzeitig wollte ich die Welt nicht aufgeben. Ich glaube nicht, dass der innere Frieden wichtiger ist als der äußere. Ich will die Welt verändern und niemanden zurücklassen. Ich glaube, dass wir alle verbunden sind und die Flucht in ein eigenes Refugium eben genau das ist: eine Flucht.
Auf dem Kollapscamp gab es diesen Widerspruch nicht. Dort war Konsens: Um die Situation klar analysieren zu können, müssen wir uns auch über unsere Gefühle klar sein. Sonst stehen sie uns im Weg, ohne dass wir es merken.
Sowohl als auch
Eigentlich ist es offensichtlich, aber ich möchte es trotzdem nochmal betonen: Den Kollaps zu akzeptieren bedeutet nicht, dass es keine Rolle mehr spielt, wie viele Emissionen wir produzieren. Jede Tonne CO₂, die nicht in die Atmosphäre gelangt, gibt uns – und allen anderen Lebewesen auf unserem Planeten – ein bisschen mehr Zeit. Zeit zum Leben, Zeit, um uns anzupassen.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen Anpassung an den Kollaps und Minderung des Klimawandels. Die resilienten Strukturen, die ein gutes Leben im Kollaps ermöglichen – von einer dezentralen, robusten Landwirtschaft bis zu Transportsystemen, die auch ohne (importiertes) Benzin funktionieren – sind allesamt besser als das, was wir haben. Der Klimaschutz ist in vielen Fällen ein Kollateralnutzen.
Der Kollaps ist auch kein Freischein, um sich generell aus den Kämpfen innerhalb des Systems zu verabschieden. Wo reale Verbesserungen zu erreichen sind, wäre es dumm, sie nicht zu erkämpfen. Ein Beispiel: Hier in Berlin sind in einem Jahr Wahlen, und ich halte die für extrem wichtig. (Wie schon geschrieben, bin ich der Linkspartei beigetreten.)
Ich habe das Gefühl, dass der Fokus auf den Kollaps mein politisches Weltbild vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Es besteht noch aus denselben Teilen, aber die sind jetzt sinnvoller gestapelt. Und sie stehen nicht ständig im Widerspruch.
Gemeinschaft ist besser
Als ich vom Camp nach Hause kam, wurde ich Zeugin eines kleinen Kollapses. Peter sagte nur: "Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr." Er sah sehr unglücklich aus.
Er lebt alleine mit einer pubertierenden Tochter, hat kein Geld und keine Putzhilfe, sucht einen Job, versucht Geld zu sparen, weshalb er den Internetanbieter gewechselt hat, was jedoch genau so reibungslos verlief, wie wir uns das alle jetzt vorstellen, also gar nicht. Er sagte: "Alles muss ich alleine machen."
(A.d.R.: Ich habe immer wieder das Gefühl, eigentlich ziemlich normal zu sein, nur der Welt ein paar Jahre voraus, und das ist auch in diesem Fall so: Ich habe zur Zeit sehr wenig Geld, so dass ich genau überlegen muss, was ich will und brauche – ich muss meine Prioritäten neu klar kriegen, neue Skills lernen und viel umdenken. Das ist schwierig, aber auch sehr interessant. Und ich denke, so wird es in den nächsten Jahren vielen gehen, schon bald in meiner Branche, dem Journalismus, der seit Jahren den Bach runtergeht und in dem absehbar in kurzer Zeit mit der Einführung von KI Massen an Jobs vor allem für Freiberuflerinnen verloren gehen werden – freie Fotografinnen und Grafikerinnen kennen das schon. Mit der Zeit wird sich das auch auf andere Bereiche ausbreiten und am Ende werden wir etwas sehr Ungesundes und letztlich irre Trauriges hinter uns gelassen haben. Aber der Übergang ist schmerzhaft. Und da bin ich gerade.)
Der Kontrast zum Camp hätte nicht krasser sein können. Ich bin fünf Tage lang an einem Ort gewesen, der funktionierte, weil alle etwas beigetragen haben, freiwillig, ohne Aufsicht oder äußere Anreize. Und es funktionierte fantastisch. Die Klos waren immer sauber und das Essen sehr gut. Alle waren rücksichtsvoll und hilfsbereit, niemand drängelte, und wenn es etwas zu tun gab, tauchte wie durch Zauberei jemand auf, der sich darum kümmerte.
Danach sah ich ein Problem unserer Gesellschaft plötzlich sehr klar: Zuhause sind wir alleine oder im besten Fall zu zweit – und wenn wir mal nicht mehr können, bricht alles zusammen. Draußen, in der Wirtschaft und Politik, sind wir dagegen so kleine Rädchen, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob wir da sind oder nicht. Wir spielen keine Rolle.
Doch der natürliche Zustand für Menschen ist das Leben in überschaubaren Gemeinschaften. Wo es auf dich ankommt, du wichtig bist und das auch merkst, aber du andererseits auch nie alleine für alles verantwortlich bist – wenn du gerade nicht mehr kannst, ist jemand da und nimmt dir die Kelle aus der Hand.
So stelle ich mir das gute Leben im Kollaps vor: Ganz egal, welche Monster sich vor uns aufstellen – wir begegnen ihnen gemeinsam!
Was gehört für dich zu einem guten Leben im Kollaps? Wo siehst du konkrete Ansätze? Tust du schon was? Oder ganz im Gegenteil: Findest du vielleicht das alles total übertrieben? Lass es mich wissen!
Ich wünsche euch einen wunderbaren Spätsommer!
Clara
A.d.R.: Spätsommer, die beste Zeit für einheimisches Obst und Gemüse. Alles ist jetzt reif, schön, lecker. Deshalb diesmal statt Links:
Fun
Tomate sagt “Tomate” und lacht sich kaputt. “Allein schon der Name! So witzig!” Das könnte nerven, aber die Tomate hält sich nicht nur für lustig – sie ist es. “Wie heißen wehleidige Nachtschattengewächse? AU-Tomaten.” Alles ist mit Tomate besser: Pizza, Pasta, Gespräche spät nachts am Küchentisch. Mit Olivenöl. Und Weißbrot. Salz! Nur Reis nicht, die humorloseste Sättigungsbeilage. Reine weiße Unschuld. Kein Sex vor der Ehe. Auch nicht in der Ehe. Verweigerung durch Geschmacklosigkeit. Die Tomate hingegen! Knabber mich an! Und erst mal aufgeschnitten: lutschen oder lecken? Und dann mmmmmmmmhhhh… Reis: Pfui! Alle anderen: Tomate, mit dir ist das Leben Fun!
Chill
Pflaumen gibt es noch einige Zeit, sagt Obsthändler Stefan, und dann kommen gleich die Zwetschgen. Auf die Frage, was der Unterschied sei, brummelt er etwas, das möglicherweise nicht zufällig unverständlich ist und letztlich wohl bedeutet: Egal! Stefan ist Obstbauer, ein Macher, super stabil in die Welt geflanscht und weit weg vom hektischen Abmarschieren von Büromeilen, von Meeting zu Meeting mit Zwischenstopp Kaffeeküche. Es liegt wahrscheinlich am Mix von körperlicher Arbeit und Unternehmertum, aber vielleicht hat er auch was von den Pflaumen gelernt, denn das ist auf den ersten Blick klar, schon wie sie da liegen an seinem Marktstand: das gechillteste Obst.
Far Out
Maiskolben sind offensichtlich Raketen, an denen die Passagiere außen kleben, um innen mehr Raum für Treibstoff und essentielle Rohstoffe zu schaffen. Sie sind total überfüllt, weil sehr zuverlässig, außerdem bekommen die Reisenden schicke gelbe Raumanzüge, die sie behalten dürfen, wenn sie die Rakete verlassen. Unfreiwillig meist. Der leichte Klammergriff vor dem Abpflücken zeugt von Liebe und Treue, aber ihr wahrer Kern zeigt sich erst beim Zubeißen: Irgendwie süß! Und trotzdem kein Obst! Maiskolben? Far Out!




Liebe Clara –
Vielleicht haben wir gleichzeitig geweint? Vielleicht aus dem gleichen Grund, aber mit einem anderen Auslöser?
Nach über zehn Jahren selbstgewählter Abstinenz war ich wieder einmal an einem Green Economy Symposium. Ich hatte mir schon gedacht, dass es nicht lustig werden würde, aber es war dann trotzdem überraschend schrecklich. Ich habe mir einen Tag lang Referate angehört über Erfolge der nachhaltigen Wirtschaft. Tolle Berichte über wirklich schöne Fortschritte. Aber ich musste mir den ganzen Tag das Weinen verkneifen: Alles genauso wie vor zehn Jahren, vor zwanzig Jahren, alles super (na ja, vielleicht nicht ganz alles), aber...
Aber die Belastungen in eben diesen Bereichen – Energie, Mobilität, Biodiversität, Ernährung etc. – sind in diesen Jahrzehnten leider immer nur grösser geworden. Ja, es wäre bestimmt alles noch schlimmer, wenn es nicht diese Schritte zu mehr Nachhaltigkeit gegeben hätte. Ich habe die Referierenden gefragt, ob sie glaubten, dass wir auf die planetaren Herausforderungen angemessen reagieren, dass wir die Transformation schaffen. Die einen sagten: ja, das kommt schon noch, Innovation ist nicht vorhersehbar. Andere drucksten herum: was sollen wir denn sonst machen? Besser ein Vegi-Tag als nichts. Oder so.
Es hat mir dann leidgetan, dass ich Menschen, die weniger frei sind als ich, in Verlegenheit gebracht habe. Mein Privileg ist, dass ich alt bin und nicht mehr gross Geld verdienen muss. Da lässt es sich leicht kritisieren, dass andere halt das Spiel mitmachen und in der Logik der Wirtschaft, wenn vielleicht auch auf der besseren Seite, das System erhalten.
Den Tatsachen so direkt ins Gesicht zu schauen, wie du das tust, hat einen hohen Preis. Das beschreibst du sehr genau. Du bist nicht mehr Teil unserer tollen Konsumgesellschaft. Und die Alternativen müssen wir zuerst bauen, vom Kleinen zum Grossen. Ich hoffe von Herzen, dass das klappt und schön wird.
Abends auf dem Weg zum Bahnhof musste ich dann eben weinen. Es hat stark geregnet und darum fiel es nicht auf.
Danke, liebe Clara, so schön dass auch andere auf dem gleichen Weg sind <3 Herzgruss aus der Schweiz, unbekannterweise. Nicolá