Kolossale Missverständnisse 2
Work-Life-Balance: Permanent "Work" optimieren reicht nicht – wir müssen auch mit "Life" anders umgehen. Aber das kann niemand alleine.
Hallöchen, Hallo! Willkommen zu unserem Newsletter. Heute bin ich dran, Peter, und damit das von Anfang klar ist, habe ich mit einer Boomer-Begrüßung angefangen. Danke, Helge Schneider! Hier ist alles gut, bei euch hoffentlich auch, und inzwischen sieht es sogar so aus, als könntet ihr uns fortan per Mail erreichen. Das ging einige Zeit nicht, warum weiß niemand, aber wenn du uns in den vergangenen Wochen auf diesen Newsletter geantwortet hast, schicke uns die Mail bitte noch mal – wir haben sie sehr wahrscheinlich nicht gesehen. Danke! Und jetzt viel Spaß (oder so) mit
Kolossale Missverständnisse 2: Work-Life-Balance
Probleme in der Work-Life-Balance scheinen in der Regel Probleme mit Work zu sein, also der Lohnarbeit: zu viel zu tun, zu unflexibel, zu schlecht bezahlt, um weniger arbeiten zu können, kein Home Office, langer Arbeitsweg etc. Was es total vernünftig erscheinen lässt, eine Lösung zumindest zum Teil von der Work-Seite zu erwarten – hurra, schon wieder was abgeschoben!
Ich sah das lange genauso, habe aber inzwischen das Gefühl, dass es zwar nicht völlig falsch ist, aber zu kurz gegriffen. Ich hätte da zumindest noch einige Fragen. Zum Beispiel: Was genau heißt “Life”?
Ich bin anfangs auf vier Bereiche gekommen:
Unbezahlte Arbeit: Hausarbeit (Einkaufen, Kochen, Putzen, Waschen etc.), Bürokratie (Behörden, Verträge, alles mit Geld, was über simples Bezahlen hinausgeht etc.), Wege (nicht nur zur Arbeit, wir sind ständig unterwegs).
Care: Kümmern um Kinder, hilfsbedürftige Verwandte, Partnerinnen, Freundinnen. Ja, das kann viel Spaß machen (vor allem mit Kindern), ist aber auch viel Arbeit.
Selfcare: Familie, Beziehungen, Sport, Zeit in der Natur, Kultur, Fun, Zeit alleine. Freizeit. Ist nicht das, was übrig bleibt, wenn alles andere erledigt ist, sondern wichtiger Teil des Lebens.
Schlaf: Komplexes Thema, bekommt irgendwann ein eigenes “Das geht besser”. Kostet jedenfalls entweder viel Zeit oder Gesundheit mit entsprechenden Folgen.
Mein Freund Benjamin meinte dazu, bei ihm käme noch etwas hinzu: Krankheit. Benjamin ist depressiv (sein Buch dazu “Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein” ist sehr gut) und deshalb oft nur begrenzt belastbar. Ich wollte erst den Punkt “Krankheit” hinzuzufügen, weil wir alle irgendwann krank sind, habe die Kategorie dann aber anders genannt:
Ausnahmesituationen: Krankheit, (Schul-) Ferien, Krisen (nicht nur eigene), Probleme (Rohrbruch, kranke Kinder, Pubertät, Hitzewellen innen und außen etc.). Der Begriff suggeriert, dass es sich um was Seltenes handelt, aber wir wissen: irgendwas ist immer.
Die Liste ist Work in Progress, Vorschläge werden gerne angenommen. Aber schon jetzt ist wohl klar: Was wir läppisch als “Life” bezeichnen, ist ein Riesenhaufen Tätigkeiten, der viel Arbeit und Zeit kostet, nehmen wir alles ernst. Tun wir aber nicht. Können wir gar nicht. Weil wir dafür nicht genug Zeit haben. Weshalb immer irgendwas fehlt, wie bei einer zu kurzen Decke: So viel du auch daran zerrst, bleibt doch irgendwas draußen, so dass du immer kalte Füße oder kalte Schultern hast.
Anmerkung der Redaktion (A.d.R.): Wenn nicht beides. Ich hätte einen ersten Vorschlag zur Erweiterung, denn meiner Meinung nach hast du etwas vergessen: Das Ehrenamt. Feuerwehr, Geflüchtetenhilfe, Sportvereine, Parteien, politische Bewegungen, ja, die ganze Demokratie und Zivilgesellschaft würde ohne sofort zusammenbrechen.
Selbst das beste Unternehmen mit den besten Arbeitsbedingungen kann dieses Problem nicht lösen. Ja, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich würde uns voranbringen, auch Home Office, Betriebskindergarten, Arbeitszeitkonten und so weiter helfen enorm. Alles super! Passt sich Work dem Leben an, bringt das die Welt voran.
Aber vielleicht sollten wir das, was wir Life nennen, auch unseren realen Bedürfnissen und Möglichkeiten anpassen? Was hindert uns daran?
Ich glaube, ein Problem ist der Aufstieg der “Greedy Institutions”, der besitzergreifenden Institutionen, “die allumfassende Ansprüche an ihre Mitglieder stellen und deren ausschließliche, ungeteilt auf sie gerichtete Loyalität anstreben.” Diesen Begriff prägte der US-Soziologe Lewis Coser 1974, der damit unter anderem Sekten, religiöse Orden und das Militär bezeichnete, aber auch Familien: Gruppen, in denen Mitgliedschaft = Leben bedeutet, inklusive gemeinsamen Wohnens und geteilten Glaubenssätzen, aber natürlich und vor allen Dingen: gemeinsam verbrachte Zeit.
Heute gibt es unzählige Greedy Institutions. Im Kampf um Aufmerksamkeit tut alles enorm wichtig: Behörden, Schulen, Paketdienste, Social Media, Trends & Brands, gute Zwecke und schlechte Ideen. Gearbeitet wird mit Drohungen (Kosten), Angeboten (Rabatte), Image (wir sind für dich da), Versprechen (KI), FOMO (das darfst du nicht verpassen) und Monopolen (Google), außerdem zunehmend mit Drogenabhängigkeit (Dopamin, wir hatten das Thema). Was nicht nur zu DruckDruckDruck führt, sondern auch zu immer mehr Zeug, um das wir uns kümmern müssen. Angeblich zumindest.
So weit, so unerfreulich. Aber das ist nur die eine Seite.
Denn während alles wuchert wie Krebs oder Kapitalismus, bleibt eines gleich: Wir. Also genau genommen Du und Du und Du und Du. Und ich. Denn wir machen fast alles alleine. Wir leben in einer atomisierten Gesellschaft, was für nichts gut ist außer dem Geschäft und zudem gegen unsere Natur – wir haben über fast die gesamte Menschheitsgeschichte in Gruppen gelebt.
Davon sind inzwischen aber fast nur noch die Partnerschaften übrig, die deshalb im Alltag oft mehr Stress erzeugen statt zu entlasten, weil sie als Lösung für alles unter höchstem Druck stehen. Das Leben mit der großen Liebe als Thermomix des Lebens. Inklusive Romantik als Bonus. Noch was zu erledigen.
A.d.R: Nach langem Nachdenken habe ich verstanden, was du mit dem Thermomix sagen willst: Viele Funktionen in einem Gerät. Ich dachte erst an Druck und Hitze und ein wirbelndes Messer.
Wäre dies ein akademischer Newsletter, würde ich jetzt fragen, wie es dazu kommen konnte – ein Glück, dass nicht. Denn viel interessanter ist, wie wir es ändern können. Wobei die Antwort auf der Hand liegt.
A.d.R: Ich bin auch froh, dass das kein akademischer Newsletter ist. Sonst hätte ich dich fragen müssen, wie du Arbeit definierst. Da haben wir alle Glück gehabt, dass uns diese Diskussion erspart bleibt.
Ich glaube, wir brauchen mehr Gemeinschaften. Alltagsgemeinschaften.
A.d.R.: Du meinst so wie WGs? Ja, klar. Ich habe keine Ahnung, warum die meisten Menschen lieber alleine, als Liebespaar oder Kernfamilie leben wollen. Vielleicht, weil sie mal mit 20 mit einem anderen 20-jährigen die Wohnung geteilt haben, beide nicht putzen konnten und sie jetzt denken, dass alle WGs schmutzig sind? Die Vorteile von WGs sind gigantisch. Die Nachteile eigentlich alle Scheinriesen.
Gemeinschaften waren von Anfang an die Basis des Überlebens der Menschheit. Es war die meiste Zeit völlig normal, in größeren Gruppen zu leben, in denen sich unterschiedliche Menschen um unterschiedliche Aufgaben kümmerten. Ich habe gerade “Die Frau als Mensch” von Ulli Lust gelesen, ein Buch über die Frühgeschichte der Menschheit, das letzte Woche mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde, und es bestätigte mir, was ich schon aus David Graebers und David Wengrows Klassiker “Anfänge” wusste: Wir sind für den aktuellen Hyperindividualismus nicht geeignet.
A.d.R: Anfänge ist etwa fünf Jahre alt, ich weiß nicht, ob man das Klassiker nennen kann.
Für eine gute Work-Life-Balance brauchen wir andere Menschen – gemeinsam Balancieren ist einfacher.
Doch wie kann das gehen? Wir sind daran gewöhnt, alles alleine zu machen, vielen gilt das sogar als erwachsen. Und Bitten um Hilfe als Schwäche. Wobei es mir nicht um Hilfe geht, sondern um gegenseitige Unterstützung als Normalfall. Alleinerziehende gründen manchmal gemeinsame Betreuungsgruppen – könnte das auch in anderen Bereichen funktionieren?
Oder können große Aufgaben gemeinsam erledigt werden? Auf einigen Bauernhöfen, auf denen ich vor langer Zeit gearbeitet habe, wurden regelmäßig “Work Parties” gefeiert: Dafür trafen sich Leute von verschiedenen Höfe an einem Ort, um dort etwas gemeinsam zu erledigen, was alleine nicht zu schaffen war. Das ging reihum, jeder Hof war mal dran. Und zugleich hatten alle jedes Mal einen lustigen Nachmittag. Party!
Im Vorgänger-Newsletter war Überlastung immer wieder ein Thema, und damals habe ich nach Apps, Lifehacks oder Dienstleistern gefragt, die uns Zeit schenken können. Darum geht es diesmal nicht. Denn ich glaube inzwischen, dass das der falsche Weg ist. Wir müssen auf eine freundliche Art radikaler werden. Und auf eine radikale Art freundlicher. Gemeinsam.
Wie seht ihr das? Ich weiß, Zweckgemeinschaften haben einen schlechten Ruf – warum eigentlich? Könnt ihr euch vorstellen, den Alltag mit anderen Menschen zu teilen, mal zum eigenen Nutzen, mal zum Nutzen der Anderen? Wie kann das funktionieren? Wo wäre es hilfreich? Wie kommen die Menschen zusammen? Wie lässt sich das organisieren? Oder findet ihr das abwegig? Oder ganz im Gegenteil: praktiziert ihr das schon? Schreibt es uns in die Kommentare. Oder schickt uns eine Mail. Diesmal funktioniert es. Bestimmt…
Habt einen prächtigen Sommer!
Peter
FUN
Ein Altersgeschichte in zwei Videos: David Byrnes Karriere begann vor 50 Jahren mit den Talking Heads und geht immer weiter. Zu seinem ersten Hit “Psycho Killer” kam kürzlich ein neues Video, das ihn sehr überzeugend ins Heute holt. Der 73-Jährige hat seitdem sehr viel Musik gemacht, Bücher geschrieben, Filme gedreht, und gerade erschien sein neues Video. Ein krasser Kontrast: “Psycho Killer” ist angestrengt, verspannt, sehr hellsichtig und handelt von einer isolierten Person. “Everybody Laughs” dagegen ist bouncy, loose, sehr gut gelaunt und vereint viele Menschen. Ja, so ist das mit dem Älterwerden. Es steht schon in den Titeln!
CHILLEN
Im Grünen natürlich. Und ihr wisst selber, wo es bei euch am Schönsten ist. Aber falls ihr noch Inspiration braucht: In der New York Times war kürzlich eine Liste mit sensationellen Parks (die aber möglicherweise hinter einer Paywall ist). Und es gibt One Minute Park:
https://oneminutepark.tv/
FAR OUT
Im Schatten liegen und weirdes Zeug lesen – ich liebe den Sommer. In meinen Links gibt es einen Ordner “Weird Longreads” – was für euch in der Hängematte? Wollt ihr mehr wissen über eine Kindheit mit Amway? Einen Betrüger vor 100 Jahren? Die Excel-Meisterschaften? Oder über eine Klinik für Milliardäre in der Schweiz:
https://www.theguardian.com/society/2023/feb/23/one-billionaire-at-a-time-swiss-clinics-super-rich-rehab-therapy-paracelsus-kusnacht